Das Genie

Arthur Schopenhauer: “Die überwiegende Fähigkeit zu der Erkenntnisweise, aus welcher alle echten Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entspringen, ist es eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet. Da dieselbe demnach zu ihrem Gegenstande die (Platonischen) Ideen hat, diese aber nicht in abstracto, sondern nur anschaulich aufgefaßt werden; so muß das Wesen des Genies in der Vollkommenheit und Energie der anschauenden Erkenntnis liegen. Dementsprechend hören wir als Werke des Genies am entschiedensten solche bezeichnen, welche unmittelbar von der Anschauung ausgehn und an die Anschauung sich wenden, also die der bildenden Künste und nächstdem die der Poesie, welche ihre Anschauungen durch die Phantasie vermittelt. Auch macht sich hier schon die Verschiedenheit des Genies vom bloßen Talent bemerkbar, als welches ein Vorzug ist, der mehr in der größeren Gewandtheit und Schärfe der diskursiven als der intuitiven Erkenntnis liegt. Der damit Begabte denkt rascher und richtiger als die übrigen; das Genie hingegen schaut eine andere Welt an als sie alle, wiewohl nur, indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt.”

Das Genie schreitet nicht deskriptiv zur Tat, sondern es ist ganz und gar schöpfend und erschließt so dabei Neues. Eigentlich befasst sich das Genie ausschließlich mit Neuem, mit neuer Form, die bisher ihrer Findung harrte. Der “platonischen Idee” wird sich in ihrer Weite und Varianz angenähert, viel eher als in ihrer vorfindlich-bekannten Explikation; man kann auch sagen: Die Idee wird neu expliziert. Das ganze Künstlertum meint so Findung , und noch besser gesagt: es ist seiner ganz Art nach ein ausnahmeloses Suchen und Streben.
“Das Genie hingegen schaut eine andere Welt “: Anders als Schopenhauer möchte ich in der Hauptsache darauf abstellen, daß diese Welt des Genies nicht die Intensivierung und Klärung oder Steigerung der Sicht auf das uns Umgebende bedeuten soll, – denn dies ist nicht das Andere! – sondern das Genie stellt etwas her, was dieser Welt bisher unbekannt, gar nie bedacht und offenbar nie angehörig war. Jedoch dies nur vermeintlich: Denn wie ein Entdecker ein fremdes Land erreicht und kartographiert oder ein Erfinder ein nicht für möglich gehaltenes Ding in die Welt setzt, das vorher nicht war, so erschafft das Genie in der Kunst eine neue Darstellung, eine unbekannte Gestalt, die doch zum Ganzen, zur ganzen Welt – die ihrem Ausmaß jedoch längst nicht bekannt ist, gehören muß. Das Genie charakterisiert sich so durch den Drang, Welt zu erschließen, daher ist es unruhig, strebend – und daher auch wird es als Genie erkannt, weil jedem Einzelnen im Tiefsten eine Ahnung dieses Strebens zugrunde gelegt ist.
So auch kann Angelus Silesius über diejenigen, die dem Geiste besser verwandt sind, sagen:
“Die Selgen dürfen sich, daß sie nie satt sind, freun;
Es muß ein süßer Durst und lieber Hunger sein.”